Jörg
Albrecht:
Leben lesen
In den vergangenen Jahren ist es [ENDLICH!] passiert:
Einzelne Stimmen und kollektive Initiativen haben den Kunstbetrieb dazu gebracht, die Prämissen der eigenen Institutionen zu hinterfragen, ihre Praxen zu verändern. Der Wandel ist da.
Und der trifft nicht zuletzt, sondern vielleicht sogar zuallererst das Kuratieren. Denn was ist das überhaupt? Eine Praxis, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts als Berufsbild etabliert hat, – und damit paralell zur fortschreitend radikalen Kolonialexpansion europäischer Mächte. Parallel zu ihr, ja Hand in Hand mit ihr hat der Kurator das Museum als Form der Ausstellung von Objekten und Menschen entwickelt. (Also von wegen: »curare«/»Sorge tragen«!)
Wie können wir Kuratieren angesichts dieser Vorgeschichte als anti-rassistisch und auch anti-faschistisch verstehen? Geht das überhaupt? Erst neunzig Jahre nach dem Beginn der NS-Diktatur und fünfundfünfzig Jahre nach 1968 können wir diese Fragen in der nötigen Vielstimmigkeit, Vielsprachigkeit, Vielheit diskutieren.
Als einer der Vielen gebe ich ein paar Gedanken rein, als jemand, der weiß, cis-männlich, middle-class, christlich und popkulturell sozialisiert worden ist und außerdem mit vierzehn Jahren begann, die eigene queerness zu erforschen.
Hier eine lose Sammlung (völlig unkuratiert!):
Kuratieren heißt für mich: nicht ausstellen, sondern einladen.
Kuratieren heißt: einen Raum gemeinsam (er-)öffnen, miteinander inszenieren, im Bewusstsein, dass Räume niemals nicht-inszeniert, machtfrei oder geschichtsfrei sind –, und im unbedingten Willen, die Schichten, die Geschichten, die Gefühle (individuelle wie kollektive) erfahrbar zu machen. Auch wenn sie wehtun.
Kuratieren heißt: die Sammlung vervielfältigen. Also nicht: wahllos sammeln, sondern die Vielfalt zulassen in der Art, wie gesammelt, und bei der Frage, was gesammelt wird.
Kuratieren heißt: die Sammlung als Anlass zur Versammlung nutzen.
Kuratieren heißt: sich versammeln und Dinge hörbar, vor allem auch: lesbar machen.
Absichtlich schreibe ich nicht: sichtbar machen. Und das ganz sicher nicht, weil ich meine, dass nur bestimmte Leben sichtbar sein sollten, im Gegenteil. In unserer Gegenwart, in der Bilder so mächtig sind, ist, wer immer sichtbar wird, auch mit den Macht-Assymmetrien und Blickregimen konfrontiert, die nun schon Jahrhunderte wirksam sind. Sichtbarkeit bedeutet eben etwas anderes als das, was wir sehen. Sichtbarkeit schreibt sich in die Körper derjenigen ein, die sichtbar sind, sie werden angreifbar, (noch mehr) ausgesetzt, als Abweichung ausgestellt im medialen Museum.
Kuratieren heißt für mich also: gemeinsam sehen lernen, auch diese Sichtbarkeit sehen lernen.
Kuratieren heißt: gemeinsam lesen lernen und Lesbarkeit herausfordern. Denn nicht nur die Leben, die eindeutig lesbar sind, vielleicht sogar: als wertvoll, als erfolgreich, sind vorhanden. Was ist mit den schwer lesbaren Leben, den unlesbaren?
Kuratieren heißt: Leben als Normalität lesen, nicht als Abweichung vom Durchschnitt (=Erfolgsgeschichte) oder Abweichung von der Norm (=Devianz).
Kuratieren heißt für mich: gemeinsam Geschichten und Identitäten lesen, damit sie sich bei jedem Lesen wiederum verändern können.
Kuratieren heißt: Schlüssel an die Hand geben, um zu lesen, wie andere leben, gelebt haben. Lesen – und im Lesen das Leben anderer für kurze Zeit erfahren, ohne es 100%ig annehmen zu können und zu müssen. Lesen, um das, was wir gar nicht lesen können, dennoch anzunehmen, und sei es nur für einen kurzen Moment. Aber dieser kurze Moment allein kann schon alles verändern.
Kuratieren heißt: auch lesen, was unlesbar ist und bleibt. Unlesbar – und gerade deswegen lebbar.
____________________
Jörg Albrecht, 1981 in Bonn geboren und in Dortmund aufgewachsen, studierte Komparatistik, Germanistik und Geschichte in Bochum und Wien sowie Szenisches Schreiben im Forum Text von uniT Graz und promovierte schließlich. Er schreibt Prosa, Essays, Hörspiele sowie Theater- und Performancetexte. 2017 wurde Jörg Albrecht zum Gründungsdirektor und Künstlerischen Leiter auf Burg Hülshoff ernannt und schlägt mit dem "Center for Literature" Brücken zwischen alten Institutionen und neuen Künsten.